Forschungsprojekte
Nach Moskau. Deutsche Emigranten im sowjetischen Exil und im Kulturbetrieb der DDR
gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung (Laufzeit 9/2018-9/2021)
Welche Schriftsteller, Theaterleute und Journalisten zog es auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus in die Sowjetunion und wer fand dort Aufnahme? Wie waren die Konditionen des politischen, beruflichen und privaten Lebens in der Ära des Stalinismus? Welche Erfahrungen brachten die Emigranten mit, als sie schließlich die UdSSR verließen, und welche Bedeutung gewann dieses Exilgepäck für die anschließende Schaffensphase im östlichen Nachkriegsdeutschland? Diese Leitfragen lagen dem Gemeinschaftsprojekt des Seminars für Slavistik/Lotman-Instituts für russische Kultur und des Instituts für Deutschlandforschung zugrunde, das sich – konzentriert auf eine Kernmannschaft von sechzehn Personen – mit den Wegen deutscher ,Kulturarbeiter‘ in die UdSSR, ihren Existenzweisen im Exil und den biographischen, ideologischen und kulturellen Prägungen durch die in der Sowjetunion verbrachten Jahre befasste.
Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass diese Jahre bis heute weithin im Schatten der Erinnerung wie der Forschung liegen und nur unzulänglich mit dem kulturpolitischen Handeln der Akteure in der Nachkriegszeit verknüpft wurden. Um einige der Ursachen zu benennen: Trauma und Verdrängung bei den meisten Beteiligten; Tabuisierungen und (Selbst)Zensur in der DDR; Ausrichtung der westlichen Forschung auf den Terror und dessen Opfer und daher Vernachlässigung der Überlebenden mit ihren äußerlich unspektakulären Biographien.
Grundlage der Projektarbeit war die intensive Auswertung von Akten, die in Moskauer und Berliner Archiven erschlossen werden konnten. Als besonders ergiebig erwiesen sich die Nachlässe in der Akademie der Künste und im Bundesarchiv (Berlin). Völlig neue Einblicke in das sowjetische Kulturexil gewährten die Kaderakten und weitere Kominternbestände im Russischen Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte (RGASPI) sowie der Fundus des Sowjetischen Schriftstellerverbands im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI). Sie erhellen sowohl das Agieren der deutschen Emigranten in den verschiedenen Kulturbereichen als auch die Zusammenhänge von beruflicher Praxis, institutionellen Strukturen, ideologischen Prozessen und polizeilich-bürokratischer Kontrolle.
Ergebnisse:
Eine wichtige Wegmarke war eine vom Projektteam organisierte internationale Konferenz, die – gefördert durch die Bundesstiftung Aufarbeitung – vom 18. bis 20. Februar 2020 an der Ruhr-Universität stattfand. In den vier Panels wurde der biographische Einzelfall mit überindividuellen Zusammenhängen von Emigrationserfahrung, Nachkriegspraxis und Erinnerungskultur(en) verknüpft und ein produktiver Diskussionsraum – auch für methodische Überlegungen – eröffnet. Die Ergebnisse sind inzwischen publiziert:
Silke Flegel / Christoph Garstka (Hg.): Stalinkomplex!? Deutsche Kulturkader im Moskauer Exil und in der DDR. Berlin: Peter Lang 2021. https://www.peterlang.com/document/1140569
Im Zuge der Projektrecherchen konnten im RGALI bislang unveröffentlichte Sitzungsprotokolle der Deutschen Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbands aus den Jahren 1935 bis 1940 ermittelt werden. Ergänzt durch ausgewählte Artikel der Deutschen Zentral-Zeitung und vertrauliche Schreiben aus den Verbands- und Kaderakten macht das brisante, bis heute praktisch unbekannte Material deutlich, was das deutschsprachige Literaturexil in der Sowjetunion eigentlich war und was es für die Beteiligten bedeutete. Versehen mit ausführlichen Einleitungen und Kommentaren werden die Dokumente demnächst veröffentlicht:
Anne Hartmann / Reinhard Müller (Hg.): Tribunale als Trauma. Die Deutsche Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbands. Protokolle, Resolutionen, Briefe (1935-1941). Göttingen: Wallstein 2022 (akte exil. neue folge, Bd. 3).
Da die Fülle an Erkenntnissen den Umfang einer Monographie bei weitem sprengen würde, sollen die Ergebnisse des Gesamtprojekts „Nach Moskau. Deutsche (R)Emigranten im stalinistischen Kulturbetrieb der UdSSR und SBZ/DDR“ in zwei, gleichwohl eng aufeinander bezogenen Bänden vorgestellt werden:
Bd. 1: Anne Hartmann: Verstrickte Subjekte. Deutsche Kulturkader im sowjetischen Exil (voraussichtlich 2023)
Bd. 2: Silke Flegel / Frank Hoffmann: Gezeichnete Akteure. Rückkehrer aus dem Moskauer Exil und der kulturelle Aufbau der DDR.